Van der Nüll: Ein Selbstmord mit Fragezeichen
Als sich am 4. April 1868 der Architekt Eduard van der Nüll in seiner Wohnung erhängte, verzeichnete die Ringstraße ihren ersten prominenten Toten. Die Unerquicklichkeiten rund um van der Nülls Hauptwerk, die Oper, waren der Öffentlichkeit leidlich bekannt. Und so lag für viele der Schluss nahe, dass van der Nüll unter der anhaltenden Kritik an seinem Bau zusammengebrochen war.
Es war damals in Wien richtig Mode, Tote zu obduzieren. Viele Menschen hielten diesen Wunsch testamentarisch fest, unabhängig davon, wie sie zu Tode kommen würden. Der führende Pathologe jener Zeit war Carl von Rokitansky.
Er galt als Koryphäe unter den Medizinern und sezierte sozusagen ohne Unterlass. Obduktionen fanden entweder in der Pathologie eines Krankenhauses oder auch privat statt. Rokitansky nahm sich des toten van der Nüll an. Seine Untersuchung ergab, wie die Neue Freie Presse zitierte, dass in der Leiche nebst Infiltration und Verdickung der inneren Hirnhäute, Verdichtung des Hirnmarkes, ein großes, in der Höhe des Herzbeutels geborstenes Aneurisma der aufsteigenden Aorta vorgefunden wurde. Rokitanskys Schlussfolgerung: Ein Zustand, der schon allein eine vollständige Unzurechnungsfähigkeit begründet.
An diesen wenigen Zeilen sind gleich zwei Punkte bemerkenswert: Zum einen ist heute jedem medizinischen Laien klar, dass ein Aneurysma also eine krankhafte Gefäßauswölbung, beim Platzen den sofortigen Tod des Patienten bewirkt.
Ein geborstenes Aneurisma konnte bei van der Nüll also nicht die Ursache für eine geistige Unzurechnungsfähigkeit gewesen sein, es hätte ihn vielmehr gleich umgebracht. Die Medizinerin und Historikerin Sonia Horn, zum Fall van der Null befragt, sieht die Möglichkeit, dass das Gefäß durch das Erhängen geplatzt ist.
Es wird klar, dass van der Nüll bei dieser Erkrankung auch ohne den Entschluss, sich das Leben zu nehmen, vermutlich bald gestorben wäre. Eine krankhafte Veränderung der Hirnhäute und des Hirnmarkes deuten auf verschiedene Leiden hin, von schlechter Durchblutung des Gehirns über eine Gehirnhautentzündung bis zum Gehirntumor.
Abgespielt hat sich etwas im Hirn, das kann man mit Sicherheit sagen, meint die Medizinerin Horn. Zum anderen ist bemerkenswert, dass der Pathologe Rokitansky den Freitod des Architekten mit geistiger Verwirrung zu erklären versuchte.
Zwar gehörte es damals zum guten Ton, Selbstmördern posthum geistige Verwirrung zu attestieren, um ihren Ruf in der Öffentlichkeit nicht zu ruinieren und ihnen ein kirchliches Begräbnis zu ermöglichen - doch einen solchen Befund hätte Rokitansky niemals erfunden. Es steht daher fest, dass van der Nülls größtes Problem in seinen letzten Lebensmonaten seine Erkrankung gewesen ist. Die psychische Belastung durch den Opernbau kam allenfalls hinzu.
Van der Nülls Tod trug alle Ingredienzien journalistisch verwertbarer Tragik in sich. Er war erst seit einem Jahr verheiratet gewesen. Seine hochschwangere Frau entdeckte am frühen Morgen seine Leiche. Außerdem war van der Nülls enger Kompagnon und guter Freund August Sicard von Sicardsburg schon seit längerem todkrank. Die Geschäfte rund um den Opernbau hatten gänzlich auf van der Nülls Schultern geruht.
Jetzt musste sich Sicardsburg vom Krankenlager notgedrungen wieder erheben und sich in den unerquicklichen Papierkrieg stürzen. Mit seinem Selbstmord hinterließ van der Nüll privat und geschäftlich eine gewaltige Lücke.
gute Nachrufe
Van der Nüll galt grundsätzlich als verschlossen, unnahbar und schroff. Die Neue Freie Presse wusste nach seinem Tod zu melden, dass der Künstler schon seit Monaten einer tiefgehenden Melancholie verfallen war, dass Vorfälle, die er sonst mit Lächeln übergangen, nun höchst verstimmend auf ihn wirkten und er, wie einer seiner Freunde diesen Zustand bezeichnet, die ganze Welt Grau in Grau sah.
Im Nachruf der Zeitung auf van der Nüll lag nicht ein Hauch schlechten Gewissens, weil man den Architekten etwa zu hart kritisiert hätte. Im Gegenteil: Mit aller Nüchternheit analysierte der Redakteur die Stärken und Schwächen des Toten: "So wenig er architecte-constructeur war und so wenig er Massen architektonisch zu beherrschen verstand, als architecte-decorateur nimmt er einen ersten Rang ein. Und: Manche der von ihm herrührenden größeren Monumentalbauten, die in rein architektonischer Natur minder glücklich waren, sind reizend in der Fülle dekorativer Details."
Der Maler Moritz von Schwind, der die Bilder im Foyer der Oper schuf, machte die leidige Hetzerei der Ämter und mit antisemitischem Unterton die gemeine Schimpferei jüdischer Journalisten verantwortlich für van der Nülls Selbstmord. Ein Brandartikel im Neuen Wiener Tagblatt schob alle Schuld auf die staatliche Bürokratie. Obersthofmeister Fürst Hohenlohe, einer der politisch Verantwortlichen für den Opernbau, beklagte sich in einem Brief an seine Frau, dass man ihn alleinig in den Wiener Kaffeehäusern für den Tod des Architekten verantwortlich machte.
Geburt der
Tochter
nach seinem Tod
Die Erfüllung seiner zwei größten
Träume konnte van der Nüll nicht mehr
erleben: die Geburt seiner Tochter Maria (2 Monate
nach seinem Tod) und die Eröffnung
der Hofoper durch den Kaiser (1 Jahr nach seinem
Tod).
Anlässlich der Operneröffnung verteilte der Kaiser großzügig Orden an die Mitwirkenden. Nicht nur bedeutende Persönlichkeiten, sondern auch Zimmerpoliere, Bauwächter und Schlosser erhielten Auszeichnungen. Der Goldregen sollte die Tragödie der Architekten so gut es ging verschleiern.
Ein Hauch von Peinlichkeit lag dennoch über
der Verteilung, denn die wichtigsten zwei Personen
konnten die Auszeichnung nicht mehr entgegennehmen.
Franz Joseph ermächtigte daher den Innenminister,
den Witwen Sicardsburgs und van der Nülls das
allerhöchste
Bedauern darüber auszudrücken, dass es
ihren Gatten nicht vergönnt war, die Vollendung
des von ihnen entworfenen und nach ihren Plänen
ausgeführten Werkes zu erleben.
(Quelle: Hinter den Fassaden der Ringstrasse, Otto Schwarz) |