Er hatte zwei Wohnsitze. Das Hotel
Sacher war der eine. Eine geräumige Villenetage
in der Gustav-Tschermak-Gasse der andere. Im Sacher
arbeitete, schlief und nahm er Nahrung zu sich.
In der Gustav-Tschermak-Gasse war sein Archiv untergebracht.
Es war das wohl eigenwilligste Archiv der Welt, dessen innere Ordnung aus mehreren tausend Plastiksackerin bestand. Es waren ganz gewöhnliche Tragtaschen, die einst dem Einkauf bei Billa, Spar oder Julius Meinl gedient hatten.
Doch sie sind von unschätzbarem Wert, denn darin befinden sich Briefe von Maria Jeritza, Jan Kiepura, Leonard Bernstein und Herbert von Karajan und überhaupt all das, was Marcel Prawy in siebzig Jahren erforscht und gesammelt hat.
Prinzipiell war jeder Quadratzentimeter in der Gustav-Tschermak-Gasse zur Unterbringung seiner Sackerin genutzt. Sie hatten sich in der Villenetage am Wiener Stadtrand so lange ausgebreitet, bis diese unbewohnbar geworden war. Die Säcke eroberten Keller, Büro, Veranda, Wohn-, Schlaf- und Musikzimmer - die Küche hatte ohnehin nie eine andere Funktion als die Beherbergung des Archivs gehabt.
Einzig das Badezimmer blieb »sackerlfrei«. Sämtliche Sackerin waren von Prawy sein Leben lang gesammelt, geordnet und (von »Aida« bis »Ziehrer«) beschriftet worden.
Nur drei Menschen kannten das Geheimnis der Prawyschen Sackerlordnung: der Opernführer selbst, sein Chauffeur Albert Reh und seine Sekretärin Heidi Artmüller, die das System des Archivs so erklärt: "Professor Prawy hat sich seinerzeit für die Plastiksackerln entschieden, weil sie ihm die beste Übersicht boten. Die Säcke mussten weiß oder gelb sein, damit er sie gut beschriften konnte."
Die langjährige Weggefährtin Senta Wengraf hat Prawys Nachlass nach seinem Tod im Februar 2003 geerbt und der Wiener Stadt- und Landesbibliothek zur Verfügung gestellt, in der sich das Archiv des Opernführers seither in bester Gesellschaft befindet. Hier ist auch das künstlerische Erbe Beethovens, Schuberts, Mahlers und Richard Strauss' untergebracht. Prawys Säcke sind also genau dort, wo sie hingehören.
Die Villa in der Gustav-Tschermak-Gasse, deren Erdgeschoss und Keller Prawy gemietet
(Quelle: Markus)
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