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Bald sagt man ihm sagenhafte Fähigkeiten
im experimentellen Umgang nach, etwa mit Fröschen.
Seine Experimente können daher auch - obwohl
genau dokumentiert - von niemandem später
wiederholt werden, da niemand mit diesen Tieren
so umzugehen weiß wie er: Außer Paul
Kammerer gelang es bis heute niemandem, Amphibien über
mehrere Generationen hinweg am Leben zu erhalten.
An der Universität Wien promoviert
er 1904, habilitiert 1910 und heiratet 1906 die
Baronesse Felicitas Maria Theodora von Wiedersperg,
1907 wird er Vater einer Tochter, die er sinnvollerweise
(ob sie das später auch so gesehen hat?) auf
den Namen Lacerta (Eidechse) taufen lässt.
Seine Familie und seine Forschungen
hindern Paul Kammerer nicht, ein äußerst
emsiges gesellschaftliches Leben zu führen:
Als bereits in jungen Jahren bekannter Wissenschaftler
und Angehöriger der besten Wiener Gesellschaft
(und Mitglied bei den Freimaurern), schlank, immer
elegant gekleidet, war er mit vielen Künstlern
befreundet, etwa dem Dirigenten Bruno Walter, den
Komponisten Alban Berg und Franz Schreker, dem
Philosophen Ludwig Erik Tesar, dem Mathematikgenie
Albert Einstein und dem Soziologen Rudolf Goldscheid,
der ihn so beschreibt: "Er hatte eine glänzende,
wenn auch etwas theatralische Vortragsweise.
Außerdem war er gut gewachsen
und elegant gekleidet, er wirkte daher mit seiner
dunklen Künstlermähne und seinen feinen
Gesichtszügen recht imponierend."
Wenn er seine eigenen Kompositionen
am Klavier vortrug, war er der Mittelpunkt jeder
Gesellschaft, und die Damenwelt Wiens lag ihm zu
Füßen. Seine Tochter erzählt, dass
sie während der Sommerfrische am Land sogar
einmal zwei Frauen beobachtete, die unter seinem
Fenster im Mondschein tanzten. Er hatte viel betuschelte
Affären, unter anderem mit der Malerin Anna
Walt (mit der er nach seiner Scheidung kurz verheiratet
war und deretwegen er versuchte, sich mit Schlaftabletten
zu vergiften) und mit Alma Mahler, der absoluten
Femme fatale dieser Zeit.
Paul Kammerer, der begabte Musiker,
war ein großer Verehrer der Musik Gustav
Mahlers, von dessen Tod er 1911 so erschüttert
war, dass er der Witwe Alma Mahler am 31. Oktober
schrieb: "Es ist unbegreiflich, wie man jemanden
ohne sexuelle Unterströmung, ohne verwandtschaftliche
und eigentlich sogar ohne äußerlich
ausgesprochene freundschaftliche Bande so lieb
haben kann wie ich Mahler. Denn das war und ist
nicht nur Verehrung, Begeisterung für Kunst
und Person, das ist Liebe!"
Seine Liebe galt jedenfalls bald
danach Alma selbst, der er später das Büchlein ,Über
Erwerbung und Vererbung des musikalischen Talentes'
widmete. Er nannte sie den "seltenen Typus der
genialen Wienerin" und war ihr völlig, bis
zum Irrsinn, verfallen. (Nicht nur er, auch Oskar
Kokoschka wollte sich ihretwegen umbringen und
hatte stets eine ihr detailgetreu nachgebildete
Stoffpuppe in Lebensgröße in seinem
Atelier sitzen.) Er drohte, sich am Grabe Gustav
Mahlers zu erschießen, sollte sie seine Liebe
nicht erwidern. Seine Verehrung wurde immer verrückter.
Alma Mahler schildert eine seiner Marotten: "Wenn
ich von einem Sessel aufstand, kniete er nieder
und beroch und streichelte den Sesselplatz, auf
dem ich gesessen war. Es war ihm dabei ganz egal,
ob Fremde im Raume waren, oder nicht. Er war auch
durch nichts von solchen Extravaganzen, deren er
in Fülle hatte, abzuhalten." Die Zeit war
zwar besonders theatralisch, aber derartige Ausbrüche
trugen nicht zu seinem Ruf als ernsthafter Wissenschaftler
bei.
Im November 1911 schlug er Alma Mahler
vor, seine Assistentin zu werden, und wirklich
konnte er sie überreden, eine Zeit lang für
ihn in der biologischen Versuchsanstalt im Wiener
Prater zu arbeiten. In ihrem Buch ,Der schimmernde
Weg' schreibt sie über ihr dortiges Erlebnis
mit Gottesanbeterinnen: "Alma musste die Versuchstiere
mit Mehlwürmern füttern und mir grauste
etwas vor dieser Riesenkiste voll sich schlängelnder
Würmer. Er sah es, nahm eine Handvoll und
steckte die Viecher in den Mund. Er fraß sie
laut schmatzend."
Alma Mahler verlor jedenfalls bald
ihr Interesse am Prater-Vivarium und an Paul Kammerer,
um sich berühmteren Männern zuzuwenden.
Sie verteidigte ihren Verehrer später auch
nicht, sie ließ sogar in ihrer Autobiographie
anklingen, dass es bei Kammerers Experimenten im
Praterlabor zu Unregelmäßigkeiten gekommen
sein könnte: "Er wünschte die Ergebnisse
seiner Forschungen so glühend herbei, dass
er unbewusst von der Wahrheit abweichen konnte." Ein
Besessener war er jedenfalls.
In den Jahren von 1899 bis 1908 verfasste
Kammerer 130 Artikel, Beiträge und Forschungsberichte
zu seinen Theorien. In der Biologischen Versuchsanstalt
im Prater assistierte er dem Zoologen und Universitätsprofessors
Hans Leo Przibram bei der Einrichtung von Terrarien
und Aquarien im Vivarium und konnte dort bald erste
selbständige Versuche mit Amphibien durchführen,
die seine Überzeugung, dass erworbene Eigenschaften
vererbt werden können, beweisen sollten. Eine
Theorie übrigens, die von Jean Baptiste Lamarck
schon um 1800 aufgestellt worden und in der westlichen
Welt als rückständig abgeurteilt war.
Denn im Gegensatz dazu hatte Charles
Darwin danach eine ganz andere Theorie der Evolution
entwickelt, die sich durchsetzte. Er erklärte
die Entstehung der Verschiedenheit der Arten durch
zufällige Mutationen einzelner Exemplare,
die, wenn diese Veränderung einen Vorteil
gegenüber ihren Artgenossen bedeutete, dadurch
größere Überlebens- und bessere
Fortpflanzungschancen hätten ("Survival of
the Fittest").
Kammerer geriet zwischen die Fronten
eines mit ungewöhnlicher Härte ausgetragenen
Expertenstreites (der bis heute andauert). Umso
wichtiger war es ihm, seine These zu beweisen,
und so wählte er, der Amphibienfan, Alpensalamander
und Flachlandsalamander für seine Versuchsreihe.
Die ersten sind an ein Leben in kühlen, trockenen
Gegenden angepasst und bringen voll ausgebildete
Junge zur Welt. Feuersalamander dagegen sind an
warmes, feuchtes Klima gewöhnt, legen zur
Fortpflanzung kiemenbestückte Quappen ins
Wasser. Kammerer vertauschte das Klima, und siehe
da: Die Feuersalamander brachten voll entwickelte
Junge zur Welt, die Alpensalamander dagegen begannen,
Laich zu produzieren. Kammerer triumphierte. Er
holte sich Salamander aus dem Wienerwald in den
Prater, mit besonders charakteristischer Hautfärbung,
nämlich orange Flecken auf schwarzem Grund,
setzte einige Tiere in pechschwarze Terrarien und
konnte beobachten, wie sich die Hautfarbe der neuen
Umgebung anpasste. Und wiederum hatte er einen
Beweis: Die Nachkommen dieser Tiere hatten von
Anfang an nur wenige orange Farben. Eine Kontrollgruppe
ließ Kammerer in einer orangen Umwelt aufwachsen,
und bereits die dritte Generation war einfärbig
orange!
Kammerer wurde für seine mühsamen
Zuchtversuche, die sich im Falle der Farbversuche über
immerhin elf Jahre erstreckt hatten, weltberühmt
und geehrt, aber auch angefeindet. Aber er ließ sich
nicht entmutigen. Als Nächstes begann er,
Geburtshelferkröten zu züchten. Die zeigen
eine für Kröten ungewöhnliche Methode
der Fortpflanzung: Sie paaren sich an Land. Alle
anderen Kröten tun es im Wasser, dazu klemmt
sich das Männchen mitunter tagelang auf den
Rücken des Weibchens - und entwickelt dabei
Brunftschwielen an den vorderen Extremitäten,
um nicht abzurutschen. Den Geburtshelferkröten
fehlen diese Schwielen. Kammerer brachte die Tiere
dazu, sich im Wasser zu paaren, und es gelang ihm
prompt, sechs Generationen der Geburtshelferkröte
zu züchten, in denen die Brunftschwielen weitervererbt
wurden, bevor die Linie ausstarb. So berichtete
er es jedenfalls in seinen Forschungsergebnissen.
Aus Begeisterung über diese
Entdeckung soll er eine Kröte geküsst
haben, was ihm den Spitznamen "Krötenküsser" einbrachte.
(Andere erzählen, dass er auf einem Schloss
in Mähren eine besonders seltene Krötenart
fand und sie erfreut küsste, worauf das Schlossfräulein
in Ohnmacht fiel und ihm der Spitzname zufiel.)
Er fotografierte diese Schwielen, fertigte Schnitte
an und reiste mit seinen Präparaten nach Cambridge,
wo er sie interessierten Kollegen zeigt. Die Reise
war ein Erfolg, Kammerer avancierte zum Liebling
der Presse und galt laut New York Times als das
größte Genie seit Darwin.
Doch die Geschichte entwickelte sich
zu einem echten Wissenschafts-Thriller. Die Fotos
waren größtenteils unscharf, einige
Präparate bald durch die vielen Reisen - von
England bis Russland - und das ständige Betasten
und Mikroskopieren zerstört. Und große
Teile seiner mühseligen Sammlungen wurden
in den Kriegswirren, als die Kühlung im Vivarium
nicht mehr funktioniert, zerstört.
1923 glänzt Kammerer in Amerika
als Autor und Vortragender, als "Mann des Jahrhunderts".
Er erhält von der Russischen Akademie der
Wissenschaften das Angebot, in Moskau ein eigenes
Institut aufzubauen, und beginnt damit, die Übersiedlung
nach Moskau zu organisieren. Doch dann kommt die
endgültige Katastrophe: Ein gewisser Mister
Gladwyn Kingsley Noble, Reptilienkurator (und Lamarck-Gegner)
aus den USA, kommt Anfang 1926 nach Wien, um sich
die berühmten Brunftschwielen selbst anzusehen.
Im Vivarium lässt er sich von Przibram das
letzte, bereits recht schlechte Präparat des
berühmten Krötenbeines vorlegen und entdeckt
unter dem Mikroskop schon bei geringer Vergrößerung:
Die Schwiele ist eine grobe Fälschung. Tusche
war in ein stink normales, schwielenloses Krötenbein
eingespritzt worden.
Sechs Monate später, im August
1926, veröffentlichte Noble seinen Befund
in der Zeitschrift nature. Kammerer, dann schon
halb auf dem Weg nach Moskau, beteuerte seine Unschuld,
verwies auf andere Experimente: seine Salamander-Versuche
und Versuche mit Seescheiden - die Authentizität
dieser Arbeiten war nie ernsthaft in Zweifel gezogen
worden. Doch vergeblich, sein Ruf als Wissenschaftler
war dahin. Und da gab es auch noch eine erneute
Affäre mit einer Wiener Künstlerin, die
sich weigerte, mit nach Moskau zu übersiedeln,
diesmal die (verheiratete) Balletttänzerin
Grete Wiesenthal. Kammerer war verzweifelt.
Der Schriftsteller Arthur Koestler,
der den Fall genau nachrecherchierte und ein Buch
darüber schrieb (Der Krötenküsser)
hat 1970 einen Forscher gefunden, der versuchte,
ein Krötenbein auf ähnliche Weise zu
manipulieren. Dabei zeigte sich, dass die Tusche
schon bald von der Konservierungsflüssigkeit
verdünnt wird, ein so manipuliertes Präparat
also sehr leicht als Fälschung zu entlarven
ist. Für Koestler war damit so gut wie bewiesen:
Als Kammerer sein Präparat 1923 in Cambridge
herumgereicht hafte, war es noch echt gewesen.
Eine sichtbare Fälschung wäre schon dort
unter dem Mikroskop aufgefallen. Also muss, so
Koestler, das Krötenbein kurz vor Nobles Besuch
manipuliert worden sein. War die berühmteste
Brunftschwiele der Wissenschaftsgeschichte also
doch keine Fälschung? Hatte Paul Kammerer
doch recht? Und damit Lamarck und nicht Darwin?
Der Zoologe Hans Przibram glaubte
bis zuletzt, dass sein Schützling Kammerer
die Brunftschwiele nicht gefälscht hatte,
und verdächtigte einen ehemaligen Mitarbeiter
des Vivariums, die offensichtliche Manipulation
begangen zu haben, um Kammerer zu schaden. Doch
beweisen konnte er es nie. Eine andere Theorie
besagt, dass vielleicht eine der Verehrerinnen
dem Professor mit seinem schon halb verfaulten
Krötenbein helfen wollte.
Am 20. September schickte der glücklose
Wissenschaftler Kammerer sein Gepäck nach
Moskau voraus. Er, der noch drei Jahre zuvor als
der berühmteste Biologe der Welt gegolten
hatte und dessen Forschungsergebnisse als größte
biologische Entdeckung der Gegenwart bezeichnet
worden waren, dessen Vortragsreisen durch die USA
Triumphzügen geglichen hatten und den die
New York Times als "nächsten Darwin" bezeichnete,
war bereit, die Flucht zu ergreifen.
Doch dann entschied er sich anders.
Am Mittwoch, den 22. September 1926, schrieb Paul
Kammerer einen Brief an die Russische Akademie
der Wissenschaften: "Ich sehe mich außer
Stande, diese Vereitelung meiner Lebensarbeit zu
ertragen und hoffentlich werde ich Mut und Kraft
aufbringen, meinem verfehlten Leben morgen ein
Ende zu bereiten ..." Dann reiste er ab nach Puchberg
am Schneeberg. Die Nacht verbrachte er im Hotel "Zur
Rose", am nächsten Vormittag spazierte er
in Richtung Himberg. Am Theresienfelsen nahm er
die mitgebrachte Waffe in die rechte Hand, richtete
sie eigenartigerweise gegen seine linke Kopfseite
- und erschoss sich. Er ist 46 Jahre alt geworden.
"Nichts ist trauriger als der Tod
einer Illusion", ein Zitat des Kammerer-Biographen
Koestler könnte für den Forscher kaum
passender sein - wie für dessen Wirkungsbereich,
den Prater. |